Vor genau 100 Jahren legte Charles-Édouard Jeanneret seinen Namen ab und nannte sich fortan „Le Corbusier“. Auch bis ins 21. Jahrhundert hinein ist das Schaffen des gebürtigen Schweizers mancherorts ein unverkennbarer Teil der städtischen Architektur, darunter Marseille, Stuttgart oder Berlin. Wir zeichnen das Leben und das Werk des kontroversen Visionärs nach.
Anfangs sah es so aus, als wolle Charles Edouard Jeanneret-Gris wie sein Vater und dessen Vater vor ihm lediglich ein kleines Rädchen im Uhrwerk der großen Schweizer Uhrenindustrie werden. Als Lehrling zum Graveur und Ziseleur hätte der in der damaligen Uhren-Hochburg La-Chaux-de-Fonds im Kanton Neuenburg geborene Jeanneret gut und gerne auch diesen Weg der handwerklichen Familientradition einschlagen können. Die lautstarken Kritiker seiner späteren Bauwerke wären sicher der Auffassung gewesen, der Welt wäre dadurch einiges erspart geblieben, doch seine Bewunderer – gerade Liebhaber von funktionalen Möbeln und harmonischen Farbkompositionen – hätte Derartiges tief getroffen. Es bedurfte einflussnehmender Lehrer und Kollegen sowie diverser Studienreisen, damit Jeanneret selbst bewusst wurde, dass er mitnichten nur ein kleines Rädchen, sondern vielmehr das ganze Uhrwerk sein wollte. Und Begründer einer völlig neuen Architektur.
Doch warum spricht man von ihm als einen der kontroversesten und doch bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts? Warum wurde er gleichermaßen gehasst wie gefeiert?
Beginnen wir mit einem kleinen Experiment: Stellen Sie sich für uns doch einmal in einen freien Raum. Sie sind 1,83 Meter groß – auch wenn diese Größe bei Ihnen laut letzten Messungen mehr oder weniger fern der Realität ist – für den Moment sind Sie es, 1,83 Meter.
Nun strecken Sie den Arm ganz nach oben aus. Das Ergebnis einer fiktiven Messung: Sie werden rein rechnerisch die Höhe von ca. 2,26 Meter mit Ihren Fingerspitzen erreichen. Ihr Bauchnabel befindet sich im Übrigen auf halber Höhe, also auf 1,13 Metern – ebenfalls rein rechnerisch.
Diese beiden mathematischen Werte sind Bestandteile des 1948 erstmals veröffentlichten Maßsystems Modulor, das auf den Proportionen des menschlichen Körpers, den Fibonacci-Zahlen und den Verhältnissen im Goldenen Schnitt beruhte. Es sollte den Lebensraum für Menschen in eine neue objektive Ordnung bringen.
In die Architekturpraxis umgesetzt bedeutete dieses System zum Beispiel für die Bewohner eines Apartments des Unité d’Habitation in Marseille: Eine zweigeschossige, schlauchartige Wohnung mit einer Deckenhöhe von 2,26 Metern pro Geschoss und einer Wohnungsbreite von gerade einmal 4,19 Metern. Jeweils auf einer Etage füllte die Wohnung die Gebäudebreite von 25 Metern komplett aus. Noch enger und doch mathematisch nachvollziehbar ging es im Kloster La Tourette zu, das ebenfalls das Modulor zur Grundlage hatte. Dort lebten die Mönche in zellenartigen Räumen, die eine Breite von lediglich 1,83 Metern besaßen. Hand aufs Herz: Würden Sie sich spontan darin wohlfühlen?
Die ersten Ideen zu diesem Proportionssystem hatte Jeanneret bereits 1925. Doch zu diesem Zeitpunkt verwendete er in der Öffentlichkeit schon gar nicht mehr seinen Familiennamen. Als es 1920 darum ging, Artikel in der Themen aus Kunst, Literatur und Wissenschaft behandelnden Monatszeitschrift „L’Esprit Noveau“, die er mitbegründet hatte, zu signieren, verwendete er erstmals sein Pseudonym Le Corbusier. Schnell wurde aus dem Pseudonym, das dem Namen eines Ururgroßvaters aus Brüssel entlehnt war, eine Art zweiter Mantel, den er über seinen eigentlichen Identität trug.
Im Rampenlicht stand fortan stets die Kunstfigur mit den streng nach hinten gekämmten Haaren, der schwarzen Hornbrille auf der Nase und meist einer Fliege am Kragen. Charles Edouard Jeanneret-Gris versteckte sich dagegen hinter einer Fassade aus beton brut, rohem Beton. Erst viele Jahre nach seinem Tod kamen über Dokumente und Fotografien Details über den Privatmenschen Jeanneret ans Licht.
Das Modulor war nicht die einzige theoretische Errungenschaft Le Corbusiers, die Kritik und Diskussion in der Fachwelt auslöste. Zusammen mit seinem Freund Amédée Ozenfant begründete er mit dem Manifest Après le Cubisme (dt.: „Nach dem Kubismus“) die neue Kunstform des Purismus, die auf geometrische Formen setzte und völlig auf dekorative Elemente verzichtete. Für die Architektur entwickelte Le Corbusier bis zur Erstveröffentlichung 1923 die „Fünf Punkte der Architektur“, die ihm eine theoretische Grundlage für seine architektonischen Aufgaben waren (s. Kasten).
Beim Bau der Villa Savoye in Poissy, nordwestlich von Paris, gelang ihm die Umsetzung all seiner fünf Punkte – ein auf Betonstützen gestellter freier Grundriss mit Dachgarten und Langfenster an allen vier Seiten der freien Fassade. Auch bei den Häusern in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung, die Le Corbusier zur 1927 vom Deutschen Werkbund initiierten Ausstellung „Die Wohnung“ beisteuerte, wurden seine Prinzipien umgesetzt. Die Gebäude bestachen durch hohe Funktionalität statt durch Komfort oder gar Luxus.
Wirtschaftlichkeit wollte er durch Wiederholbarkeit erreichen. Durch industriell herstellbares Wohnen sollte der immer stärker technisierten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts Rechnung getragen werden. Ganze Städtebaukonzepte arbeitete er zusammen mit seinem Vetter Pierre Jeanneret aus, eines gigantomanischer und radikaler als das andere. Ein großer Teil der Altbauten im Zentrum von Paris wäre seinerzeit Le Corbusiers Plan Voisin zum Opfer gefallen, hätte er ihn realisieren dürfen. Nicht weniger als 18 Betonbauten mit jeweils sechzig Stockwerken wollte er stattdessen errichten, schön regelmäßig angeordnet. Diese Zusammenfassung von Wohnraum sollte zudem Platz für ein autogerechtes Paris schaffen.
So kontrovers Le Corbusiers architektonische Theorien zu Maßen und Konstruktionen von Räumen und Bauwerken auch diskutiert wurden, so einhellig ist bis heute die Meinung über die „Polychromie Architecturale“, jene Farblehre, die der Wahlfranzose im Zuge seines großen Interesses an der Innenraumgestaltung entworfen hatte.
Wer hat nicht schon einmal Farben nebeneinandergehalten, um ihre gegenseitige Verträglichkeit und Harmonie zu überprüfen. Kann ich diese Bluse zu diesem Rock anziehen? Passt diese Krawatte wirklich zu Hemd und Anzug?
Sei es nun bei der Wahl einer passenden Garderobe oder bei der Suche nach Tapeten oder Wandfarben für die Inneneinrichtung, immer geht es dabei auch um die Atmosphäre, die man mit der Auswahl zu erschaffen vermag. Mit Farben und Farbkombinationen lässt sich ein riesiges Spektrum an Empfindungen erzielen. Einladung oder Ablehnung, Wärme oder Kälte, Wohlgefühl oder Provokation. Unharmonische Kombinationen oder schrille Akzente können verwirren und unsere Blicke auf Punkte lenken, die mitunter gar nicht gewollt sind. Farben modifizieren unsere Wahrnehmung des Raumes und sind gleichzeitig in der Lage, Räume zu strukturieren, in dem sie Zusammenhänge in der Einrichtung erkennen lassen und so Objekte gewissermaßen klassifizieren.
Der Schweizer wollte gar nicht erst, dass Bausteine seiner Architektur eine größere Aufmerksamkeit bekamen, als er ihnen zuzusprechen gedachte. So verzichtete der Innenausstatter und Künstler Le Corbusier auf visuelle Effekte durch grelle Farben ebenso, wie es der Architekt Le Corbusier gemäß seiner puristischen Einstellung mit Schnörkeln an der Fassade getan hatte. In den 20er-Jahren begann er, ein Farbsystem zu entwickeln, das ihm eine harmonische Raumgestaltung und eine uneingeschränkte Kombinierbarkeit ermöglichte.
Konkreter wurden seine farblichen Kompositionen, als er von der Basler Tapetenfirma Salubra die Möglichkeit bekam, seine Ideen auf Tapeten zu bringen. Die Basis der von natürlichen Pigmentfarben geprägten Farbpalette bestanden aus den vorwiegend pastellfarbenen Tönen Ultramarin, Blau, Grau, Englischgrün, Ockergelb, dem italienischen Ocker (Siena), Zinnoberrot, Karmin- und Englischrot sowie Weiß und Schwarz. Insgesamt 43 Farbtöne umfasste die erste Farbklaviatur von 1931, der er 1959 zwanzig weitere folgen ließ. Es kam jedoch eine Zeit, in der sein System fast völlig vergessen schien. Er ist jüngerer Zeit erfreuen sich seine Farben wieder wachsender Beliebtheit.
Eine theoretische Grundordnung durfte auch in seiner Farblehre nicht fehlen. So teilte er seine Farbpalette in vier verschiedene Funktionen ein (s. Kasten). Ausgangspunkt für alle Kombinationen waren die Farben der statischen Reihe, die in seinen Klaviaturen auf den Querbändern zu finden waren und in seinen Augen die elementarsten Farben in der Architektur darstellten. So wurde beispielsweise die Villa La Roche in Paris von Le Corbusier in Sienne naturelle pâle getaucht, einem Weiß aus gelblichem Kalk. Dagegen verwendete er gemäß der zweiten, konstruktiven Gruppe von Farben den dunkelbraunen Ton Terre d’ombre brûlée als Mittel, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Elemente der Innenarchitektur zu lenken oder auch davon abzulenken. Im Falle der Villa La Roche sollte der geometrisch geformte Treppenaufgang hervorgehoben werden. An anderen Stellen fungierten die dunkle Töne gewissermaßen als Tarnfarbe, um unschöne Details zu kaschieren und die Augen des Betrachters zum Licht zurückzuführen.
Mit seinen Farbklaviaturen gelang es Le Corbusier, in seinen Bauwerken und auch auf der Fassade Atmosphäre zu schaffen und Stimmungen zu erzielen. Selbst bei den Betonbauten der Unité d’Habitation oder auch den Regierungsgebäuden im indischen Chandigarh, die er in den 50er-Jahren auf Wunsch des damaligen indischen Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru errichtete, nutze er die Kraft der Farben für die Akzentuierung einzelner Elemente.
Le Corbusiers Schaffen war so vielfältig wie umfangreich. Mitunter könnte man den Eindruck gewinnen, dass ihm bei all den Gemälden, Skulpturen, Zeichnungen, Collagen, Gravuren und Emaillen kaum noch Zeit für andere, weniger künstlerische Dingen geblieben sein muss.
Und die wenigsten wissen: Le Corbusier versuchte sich 1935 sogar als Konstrukteur eines Automobils. Sein „Voiture Minimum“ nahm zu dieser Zeit an einem Designwettbewerb der französischen Société des Ingénieurs de l’Automobile teil, kam aufgrund diverser Verstöße gegen die Regularien des Wettbewerbs aber nie über das Stadium einer Studie hinaus. Auch Le Corbusiers werben bei den damaligen führenden Automobilherstellern änderte daran nichts. Erst 50 Jahre später, genauer gesagt anlässlich des 100. Geburtstags von Le Corbusier wurden die Pläne des schweizerischen Tausendsassas in einem Prototypen umgesetzt.
Le Corbusier verstand es, jene Zeiten für seine Ideen und Konzepte zu nutzen, in denen seine architektonischen Fähigkeiten wenig gefragt waren. Vor allem die Kriegsjahre nutze er dazu, aber auch Perioden, in denen er trotz seines außerordentlich guten Rufes wenig Aufträge bekam. Sein Modulor-System war beispielsweise das Produkt einer solchen Phase.
Wir gehen zurück nach Marseille. So klobig und bisweilen abstoßend die aus Sichtbeton konstruierte und optisch mittlerweile in die Jahre gekommene „Wohnmaschine“ auf dem Boulevard Michelet aus wirken mag, erfüllte sie 1952 einen ganz bestimmten Zweck: sozialer Wohnungsbau in einem vom Zweiten Weltkrieg zerrütteten Land. Bezahlbar, hell und funktional – das waren die Attribute der 337 Apartments, die gerade jenen mit wenig eigenem Mobiliar vieles zu bieten hatten. Als „vertikale Stadt“ erbaut, bot der Cité Radieuse genannte Komplex als erstes Konstrukt überhaupt Elemente, die die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellen sollten – eine Einkaufsmeile auf halber Höhe des Gebäudes mit Läden, Friseursalon und kleinem Hotel sowie ein Kindergarten und eine Sporthalle auf dem Dach.
Nicht zuletzt durch die über die Jahrzehnte gewachsene Legende Le Corbusiers wohnen die Menschen mittlerweile gern im Betonschiff mit den chaotischen wirkenden Farbmustern auf der Fassade. Und nicht nur in Marseille.
War das Gebäude in seinen Augen eine Maschine zum Wohnen, so gab es in seinen konzipierten Wohnungen stets auch „Sitzmaschinen“. Getrieben vom Wunsch nach möglichst hoher Funktionalität baute er lieber „Equipment“ statt zeitgenössische Möbel in seine Wohneinheiten ein. Le Corbusier entwarf gemeinsam mit Pierre Jeanneret und der Möbeldesignerin Charlotte Perriand eine Reihe von Sitzmöbeln, die buchstäblich das Innere nach außen kehrten. War bis dato die Konstruktion, die einem Sessel oder Sofa seine Stabilität verlieh, unter den Polstern verborgen, so ließ er bei den Sesseln seiner berühmten LC-Serie Stahlrohre sichtbar die Polsterung umfassen.
Wie in der Architektur blieb auch im Möbeldesign seine offensichtliche Abkehr vom Althergebrachten nicht unbemerkt. Doch anders als seine Bauwerke haben sich die kubischen Sitzmöbel des Le Corbusier-Studios, die zum Großteil von Charlotte Periand entwickelt wurden, schnell zu Klassikern entwickelt. Auch heute noch werden sie produziert und punktuell modifiziert. Neben besagten Sesseln genießt vor allem auch die „Maschine zur Entspannung“, die LC4-Liege einen hohen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad.
Neben einer neuen vieldiskutierten Stilrichtung der Architektur hat Le Corbusier mit seinen Formen, Farben und Möbeln auch eine ganz eigene Wohnkultur geprägt. Und wem diese Art zu wohnen befremdlich erscheint, dem mag es vielleicht recht sein, Le Corbusiers Bauwerke zumindest als Kunstobjekte anzusehen. Unabhängig davon war es Le Corbusier zu Lebzeiten wie keinem anderen Architekten gelungen, für Aufmerksamkeit und Wirkung bei den Menschen zu sorgen. Ob es einem nun gefiel oder nicht.
Le Corbusier hatte schon zu Lebzeiten viel erreicht, wichtige Posten bekleidet, diverse bedeutende Vorhaben realisieren und nachhaltige Systeme und Ordnungen für zukünftige Künstler und Architekten entwickeln können. Etwas mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tod wurde ihm Mitte 2016 eine weitere Ehre zuteil, als 17 seiner Bauwerke, darunter auch die Häuser in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung, von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurden.
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