Ihre neuen Kolleginnen am Deutschen Theater Göttingen, Anna-Paula Muth und Marina Lara Pohltmann, kommen frisch von renommierten Schauspielschulen. Die in Solingen geborene Angelika Fornell hat dagegen ganz andere Pfade beschritten, ehe sie auf die Göttinger Bühne gelangte. Im Interview erzählt uns die 65-Jährige von ihrem ungewöhnlichen Werdegang und ihrer Arbeit am DT.
Frau Fornell, Sie haben in den 1970ern an der RWTH Aachen Architektur studiert und sieben Jahre als Architektin gearbeitet. Nun stehen Sie seit nunmehr neun Jahren auf den Bühnen des Deutschen Theaters Göttingen und sind fester Bestandteil des Ensembles. Warum haben Sie mit 35 Jahren die vergleichsweise sicheren Gefilde der Architektur verlassen und sich fortan der Schauspielerei gewidmet?
Ich hatte das Vordiplom abgeschlossen und dann hat es sich ergeben, dass ich ein sehr tolles Architekturbüro gefunden habe. Aber da war noch etwas, etwas ganz tief unten. Das hat sich irgendwann nicht mehr verleugnen lassen. Allerdings war mir das lange nicht bewusst. Ich war sehr glücklich in der Architektur, gerade auch, weil die Konstellation, in der ich dort gearbeitet habe, sehr gut war. Ich habe das Büro dann auch mit einem weinenden Auge verlassen. Aber da war eben noch etwas, die Schauspielerei, und die war stärker.
Üblicherweise besuchen Menschen mit dem Berufswunsch Schauspieler über mehrere Jahre eine entsprechende Schule. Wie ging der Weg aus dem Berufsleben als Quereinsteiger mit immerhin schon 35 Jahren hin zur Schauspielerei dann bei Ihnen vonstatten?
Ich habe ein Jahr eine Schauspielschule besucht, aber eine private. Mit Mitte dreißig muss man Glück haben, dass einen überhaupt eine private Schule aufnimmt. Der Berufseinstieg war dann holprig, ich hatte aber auch viel Glück. Vielleicht bin ich in ein Zeitfenster reingerutscht, wo das gerade noch ging. Ich könnte mir vorstellen, dass es heute schwieriger ist, weil der Markt voll ist. Es gibt sehr viele Absolventen von tollen Schauspielschulen.
Die direkte Konkurrenz um Rollen hat in Schulen also viel länger die Grundlagen erlernen können. Wie holt man diese fehlende „lehrreiche“ Zeit auf?
Ich war zunächst vier Jahre Gast am Düsseldorfer Schauspielhaus – mit zwei Stücken pro Jahr. Keine großen Rollen, aber eben Rollen. Da hat sich gezeigt, dass man sich in dem Beruf sehr, sehr viel abgucken kann, wenn man sich öffnet. Zum Beispiel: Was machen Schauspieler, die man selber toll findet? Wenn man sich das heranzieht und an sich selber weiterarbeitet, lernt man in der Zeit ungeheuer viel. Eine Frau in der Dramaturgie dort in Düsseldorf hat mich immer mal wieder für kleine Rollen angerufen. Die wurden dann ein bisschen größer und ich war mehr zu sehen. Dann bekam ich die Gelegenheit zum Vorsprechen in Bonn und habe meinen ersten festen Vertrag bekommen.
Seit der Spielzeit 2011/12 sind Sie Teil des Göttinger Ensembles und gehen nun schon über dreißig Jahre dem Beruf des Schauspielers nach. Wie hat sich die Rollenvorbereitung verändert, auch hinsichtlich der digitalen Medien?
Die Recherchen werden umfangreicher. Wenn ich wie in „America First“, das wir hier zwei Spielzeiten aufgeführt haben, eine alte Marilyn Monroe spiele, die auf ihr Leben zurückschaut, dann muss ich mich gut auskennen. Das heißt: Biografien lesen und eine aufwändige Recherche – auch im Internet. Dort habe ich mir Interviews von ihr bei YouTube angeguckt. Das war fast noch wichtiger, als die Filme zu gucken. Ich habe mir sehr viele Fotos angeschaut und eine französische Homepage von einer Frau gefunden, die alles gesammelt hat, was es irgendwann mal über Marilyn Monroe gegeben hat. Das ist dann sehr interessant und reichert einen unheimlich an. Bei einem so fragmentarisch geschriebenen Stück wie diesem braucht man das unbedingt. Früher war die Recherche natürlich mühsamer. Heute ist sie dafür selbstverständlich. In den Produktionen sind wir heute auf jeden Fall informationslastiger.
Mit zunehmendem Alter ändern sich sicher auch die Rollen, in die man schlüpft. Wie sehr weint man jüngeren Rollen nach? Oder überwiegt die Vorfreude auf gestandene, erfahrenere Charaktere?
Eher letzteres. Als Schauspieler stellt man ständig andere Menschen und deren Biografien dar, durchläuft aber auch seine eigene. Jetzt ins Lebensgefühl einer dreißig Jahre jüngeren Figur einzusteigen, ist natürlich noch möglich – auch wenn man nicht mehr so aussieht – aber es ist für mich interessanter, meine eigene Altersphase zu spielen. Ich bin jetzt aber gerade wieder in einer Produktion [„geteilt“, Anm. d. R.], in der ich eine Mitvierzigerin spiele. Das liegt aber an der Setzung des Regisseurs, der nicht altersgemäß besetzen will. Wir spielen darin alle ein Alter, das wir gar nicht so unbedingt sind. Das gibt es auch.
In der Zeit, in der ich frei gearbeitet habe, habe ich für eine ausgefallene Kollegin die Hermia in „Sommernachtstraum“ übernommen. Hermia ist darin eine der jungen Liebenden. Der damalige Regisseur hatte das aber so konzipiert, dass das Stück im Altersheim spielt. Weil er sagte, im Alter kann man sich auch noch verlieben. Wir sollten dann verrückte alte Leute spielen. Das war sehr lustig.
Die Enttäuschung darüber, dass man nicht mehr die junge Anfängerin ist, schließt sich einfach aus angesichts der Fülle, was da stattdessen kommt. Dazu ist das, was man spielen darf, viel zu interessant.
Wie empfindet man die Rollen, die man bisher gespielt hat? Gibt es Lieblingsrollen oder wächst einem jede Rolle irgendwie ans Herz?
Beides. Eine Rolle, an die ich bereits gedacht hatte, als ich noch viel zu jung dafür war, ist die Rolle der Martha in dem Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. Ich hatte hier vor drei Jahren das große Glück, dass ich das Spielen der Rolle angetragen bekommen habe. Das war eine Traumrolle. Der Stoff ist so großartig.
Aber gerade weil wir durch Recherchen und durch die Gespräche in unserer Produktion – wir nennen das die kleine Anekdotenrunde – unterschiedlichste Erfahrungen zusammentragen, wird das Bild von der Figur sehr angereichert. Dadurch lernt man sie erst richtig kennen. Es ist so – und das ist nicht nur meine Erfahrung – dass man keine Lieblingsfiguren in dem Sinne hat und auch nicht braucht. Wir steigen intensivst in die Figuren ein und daraus ergibt sich eine Verbindung. So wird jede zu einem Liebling.
Ein Theater ist einer Musterbeispiel für ein Mehrgenerationenhaus. Warum funktioniert diese generationsübergreifende Zusammenarbeit in einem Theater so gut?
Existenziell wichtig für diesen Beruf ist es, dass man sich weiterentwickelt. Die Figuren, die man spielt, werden komplizierter, verworfener, vielschichtiger. In der Vergangenheit hat man gesagt: Wenn man jung ist, spielt man sich selbst. Das stimmt heute auch schon nicht mehr. Auch eine junge Figur wie zum Beispiel die junge Protagonistin Wahida in „Vögel“ ist auch schon ein ganz komplexer Mensch. Das Alter spielt also überhaupt keine Rolle. Wir haben alle diesen Beruf gelernt und begegnen uns in der gemeinsamen Arbeit. Andererseits gibt es aber auch keinen Grund zu verleugnen, in welcher Altersphase man ist, weil das ebenso Bestandteil des Berufs und des Spielens ist.
Seit Ende November stehen Sie in dem Stück „geteilt“ von Maria Milisavljevic auf der Bühne im DT-2. Worum geht es darin und was macht Ihre Rolle darin so anspruchsvoll?
Es geht um das Thema Vergewaltigung und die Frage: Was passiert in den Beteiligten, wenn eine Vergewaltigung stattgefunden hat? So fällt mein Hauptpart auf die verheiratete Frau Anna, die zwei Töchter hat, die in die Schule gehen. Wie schon erwähnt, wollte der Regisseur [Moritz Beichl, Anm. d. R.] nicht altersmäßig richtig besetzen.
Es ist ein nicht so ganz einfach geschriebener Text, die sprachlichen Setzungen sind eigen. Die Autorin spielt sehr mit der Sprache.Manche Sätze sind ein bisschen mehrdeutig. Das ist nicht so einfach zu lernen. Aber Lernen gehört zu dem Job. In diesem Falle ist es so, dass wir sehr viel am Tisch arbeiten. Das heißt auch, dass man sich zusammen im Detail die Facetten dieses Themas klarmacht. Gerade die Frage: Was erlebt der, der vergewaltigt hat? Der sich in diesem Stück vor sich selbst ekelt und damit fertigwerden muss? Der durch sich selbst ein Trauma erlebt? Sie hat das sehr differenziert geschrieben, und damit setzt man sich dann ganz genau auseinander. Es ist eine intensive Arbeit, das wirklich genau im Detail für alle Figuren in dem Stück zu beleuchten.
Jeder hat früher mal Gedichte auswendig lernen müssen oder in der Schule selbst Theater gespielt. Das war stellenweise schon enervierend. Ein Stück für das DT einzustudieren, muss daher wahnsinnig viel Arbeit bedeuten.
Wir haben einen Block vormittags und einen abends. Acht Stunden kommen da locker zusammen. Man macht die Proben, aber man überprobiert nicht, weil das irgendwann nichts mehr bringt. Dann geht man nach Hause und lernt Text. In so einer Produktion [„geteilt“, Anm. d. R.] mit fünf Spielern für einen wirklich großen Stoff haben wir alle viel zu tun. Das sind unzählige Stunden.
Für die Vorstellung muss man sich dann alles wieder wachrufen. Bei dem Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ habe ich drei Tage vorher angefangen und den Text jeden Abend einmal gemacht. Schnell gesprochen – nur meinen eigenen Text – habe ich über eine Stunde gebraucht. Ich musste also über eine Stunde auswendig lernen. Das braucht einfach seine Zeit.
Und wie lernt Angelika Fornell am liebsten ihren Text?
Ich bin nicht so der Wanderer. Andere sind sehr wanderfreudig. Es gibt eine Kollegin, die geht wirklich in den Wald. Das finde ich ganz toll und auch sehr gesund. Ich aber brauche einen kuscheligen warmen Sessel. Zum Lernen habe ich also einen Ort zu Hause.
Sie haben nicht nur auf der Bühne gestanden, sondern ab und an auch vor der Kamera in kleineren TV-Rollen, zuletzt im Münster-Tatort. Wie unterschiedlich sind Bühne und Fernsehen?
Sehr unterschiedlich. Man hat beim Fernsehen so gesehen keine Probenzeit. Man probiert die Figur zu Hause, mit sich selbst. Am Set gibt es zwar schon eine Probe – Kamera und Ton werden ja nicht sofort angeschaltet –, aber die ist relativ kurz. Man muss also in sehr kurzer Zeit den Kontakt mit dem Kollegen herstellen, mit dem man spielt. Man muss sehr gut die Konzentration und Spannung halten können. Und man muss bereit sein, sehr lange zu warten.
Bühne und TV – wie gut können die im Schauspielalltag überhaupt koexistieren?
Das ist in einem festen Engagement gar nicht so leicht. Man hat öfter mal Anfragen, aber es klappt dann nicht, weil man die Zeit nicht freibekommt. An einem Vorstellungstag kann ich natürlich nicht drehen. Ich möchte beides nicht missen, aber auf der Bühne fühle ich mich sehr zu Hause. Drehen ist für mich immer ein kleines Abenteuer, aber ein schönes.